"SOMEWHERE NOT HERE"
Katalog Text von Dorothea Strauss

Gert Rappenecker interessiert sich für Illusionen. Seit vielen Jahren drückt er dieses Interesse programmatisch in unterschiedlichen Medien aus und ein wesentliches Credo seiner Haltung zeigt sich darin, die Beziehungen zwischen Künstlichkeit und Wahrhaftigkeit, zwischen Schein und Sein auf einen Prüfstand ihrer Möglichkeiten zu stellen. Er bedient sich einer Strategie eines Angriffs auf die Utopie von Authentizität, in dem er die Anmutungsqualitäten seiner Arbeiten in ein widersprüchliches Verhältnis zu ihren tatsächlichen Zusammenhängen und Bedingungen verstrickt.

Gert Rappeneckers Arbeiten provozieren Unsicherheitsfaktoren. Bei intensiverer Beschäftigung mit den eingesetzten Mitteln zeigt sich ein dauerndes und somit nicht lösbares Wechselspiel zwischen Täuschung und Entlarvung, zwischen Schein und Sein. In diesem Wechselspiel bedient sich der Künstler keiner Hierarchie zwischen den verschiedenen Realitätsformen, sondern setzt sie jeweils zueinander als Korrektive ein und schafft somit ganz bewusst ein Terrain optionaler Verunklärungen.
In der Werkgruppe der "Landschaftsbilder", die seit 1993 entsteht, wird auf den ersten Blick die Authentizität eines harmonischen Naturbildes suggeriert: Zu sehen sind in einer schwarz-weiss Technik gemalte Ansichten verschiedener Landschaften; Assoziationen an die Landschaftsmalerei des 18. Jahrhunderts sind durchaus erwünscht. Doch Rappenecker malt diese Landschaften nicht aus der Erinnerung und auch nicht an der Staffelei vor Ort, sondern verwendet als Vorlagen gewöhnliche Abbildungen aus Reisebüchern und Reiseprospekten und erstellt davon vergrösserte s/w-Kopien. Diese werden auf Leinwand aufgezogen und dann wie in einem Do-it-yourself-Verfahren in Öl ausgemalt.

Rappenecker bedient sich in seinen Arbeiten häufig verschiedener Täuschungsmanöver, doch meint seine Täuschung keine Simulation im herkömmlichen Sinn, denn sie möchte nicht die Realität imitieren. Gert Rappenecker geht es viel mehr darum, aus einer sowohl kritischen Distanz heraus wie auch mittels einer subjektiv-sentimentalen Geste einen Erlebnisraum zu schaffen, der im Zustand der Entzauberung neue Idealbilder schaffen kann. Was wie ein Widerspruch erscheint, soll auch einer sein. Rappenecker möchte ganz bewusst Konflikte provozieren, zwischen einer romantischen Sicht auf sehnsuchtsvolle Wunschbilder und der ironisch-kritischen Bestandsaufnahme gesellschaftlich sanktionierter künstlerischer Mittel und Techniken wie Keilrahmen oder Ölmalerei.

Das Thema Konflikt erscheint somit in seinen Arbeiten als eine grundsätzliche und mediatisierte Kategorie, die das Verhältnis zwischen Form und Inhalt bestimmt. Und diese ist immer von einem latent geschürten Zweifel an den Möglichkeiten ästhetischer und inhaltlicher Massnahmen geprägt.

Auch in der Serie der "Pulps" wird dies deutlich. In längliche Blöcke aus feuchtem Ton presst Rappenecker mit Buchstabenstempel kurze Sätze, die er aus amerikanischen Lifestyle Magazinen und Horoskop-Heften direkt oder leicht verändert entnommen hat. Die bearbeiteten Tonblöcke werden in Aluminum gegossen, doch bleiben die Verstreichspuren der Tonmasse weiterhin sichtbar: Die Fingerabdrücke und der Gebrauch von Stempeln können als authentische Spur der schaffenden Künstlerhand interpretiert werden und liefern, nicht ohne spielerisch-ironischen Unterton, das Gütesiegel "hand-made".
Sätze wie "From now on things will be different" oder "This is a time of endings and beginnings, but the final outcome will be very positive" lösen durchaus viele Assoziationen aus, doch liest man solche Horoskope im Kontext von Hochglanzmagazinen und ihren Lifestyle-Ratgebern, dienen sie nur dem Amusement, kurzweilig und oberflächlich. Spielerisch und ohne ernste Folgen liefern sie esoterisch aufgeladene Fragen danach, wie wir unser Leben beeinflussen können, oder ob wir nicht doch Sklavinnen und Sklaven höherer Mächte sind. Rappenecker wertet diese Aussagen auf und stellt sie gleichzeitig in einen ironisch-kritischen Zusammenhang: Er konfrontiert die prophetischen Aussagen mit einem dezidierten Umgang mit Form, Inhalt, Material und Technik. Strategisch kalkuliert scheint er ihnen ihren tiefen Sinn zurückzugeben, einen Sinn, den sie in diesem Zusammenhang nie wirklich hatten; und trotzdem hallt aus dem Hintergrund die grosse und nicht zu beantwortende Frage nach dem Sinn des Lebens. Wird der Künstler sie beantworten können?

Gert Rappenecker legt in der Werkgruppe der "Pulps" eine feine Spur ganz verschiedener gesellschaftsanerkannter Verdachtsmomente in Richtung eines echten Kunstwerkes mit tiefsinniger Aussage. Er bedient sich sozusagen verschiedener "Kunst-Effekte" und konstruiert und konstituiert nicht nur ein "echtes Kunstwerk", sondern auch - immer mit einer konzeptionellen und zugleich ironischen Haltung - den dazugehörigen "echten Künstler".

Seit geraumer Zeit wendet sich Gert Rappenecker in seinen Arbeiten atmosphärisch und materialästhetisch noch stärker theatralischen Mitteln und Effekten zu. Vor allem in seinen raumgreifenden Installationen inszeniert er begehbare Parcours, die häufig eine geradezu animistisch aufgeladene Qualität zeigen. Steht konzeptionell zum Beispiel in den "Landschaftsbildern" noch eher ein handlungsorientierter Reflektionsprozess im Zentrum, setzt sich Rappenecker in seinen neusten Arbeiten nun stärker mit psychisch orientierten Zuständen auseinander: Unter Verwendung standartisierter und industriell gefertigter Materialien und Produkte des Alltags inszeniert er menschenleere Orte, geprägt von einer einsamen und melancholischen Grundstimmung.

In der 1997 entstandenen Arbeit "Krater" verankert Gert Rappenecker Autofrontscheiben am Boden in der Art und Weise, dass sie einen Kreis von ca. neun Meter Durchmesser bilden. Aufgefüllt wird die Fläche mit kleinen Styroporelementen, die normalerweise als Füll- und Stützmaterial für Verpackungen von Elektrogeräten verwendet werden; aus der weissen Masse ragen Antennen von alten Transistorradios heraus, deren Sender so eingestellt sind, dass sie ein permanentes und diffuses Rauschen produzieren. Von weitem betrachtet ergibt sich ein schönes und beinahe elegisch anmutendes Bild. Doch Rappenecker überdehnt die Attraktivität des "schönen Bildes" durch die Kühle und Distanz der Materialien und in einem Spannungsfeld zwischen Kunst- und Naturbild, Realität und Illusion offenbart sich ein modellhafter Erlebnisraum.
Mit der Installation "Krater" ist Gert Rappenecker nicht nur eine überaus eigensinnige und vieldeutige Arbeit gelungen, sondern sie markiert zudem in Verbindung mit der Arbeit "Long Way" eine neue inhaltliche Ausrichtung: Beide Arbeiten beanspruchen den ganzen Raum, vermitteln trotz ihrer überschaubaren Materialästhetik die geheimnisvolle Atmosphäre einer Warte- und Verweilsituation und scheinen eher ein Gefühl, einen seelischen Zustand zu transportieren, als dass sie einen Prozess sichtbar machen wollen.
Die Wahl des Titels "Krater", die diffusen Geräusche im Hintergrund und das leichte Herausquillen der Styropor-Elemente an den Seiten der Autoscheiben provoziert die Assoziation an einen bevorstehenden Vulkanausbruch. Gleichzeitig sind die Agenten dieser Geschichte so minimalistisch eingesetzt, dass eine mögliche Entladung in einem stabilen Schwebezustand wie eingefroren erscheint. Dieser Zustand eines fast bedrohlichen Innehaltens bestimmt im wesentlichen auch Gert Rappeneckers aktuellste Arbeit "Somewhere not here". Auch hier erscheinen die Mittel am Anfang geradezu plakativ: In den beiden Ausstellungsräumen der Kellergewölbe der Stadtgalerie Bern stapeln sich in unterschiedlichen Höhen fabrikneue Autoreifen für PKWs. Das Licht kommt von gewöhnlichen Baustrahlern, die auf dem Boden stehen und dramatische Schlagschatten werfen. Nur im hinteren Raum liegt ausser den PKW-Reifen zudem ein einziger und wuchtiger LKW-Reifen, in dessen Mitte sich eine Luminglasscheibe befindet, die auf Schallwellen reagiert. Split, kleine, scharfkantig gebrochene Steine, sind unregelmässig auf dem Boden verteilt, die Reifenstapel versinken leicht darin. Zudem befindet sich in der hinteren linken Ecke im ersten Raum noch ein Stapel Kühlakkus, mit denen man gewöhnlich Kühltaschen bestückt. Beherrscht wird die ganze Szene von einem laut und regelmässig pochenden Ton, und dieser lässt bei jedem Schlag auf der Luminglasscheibe Linien erscheinen, die an Gewitterblitze oder auch an die feine Äderchenstruktur in einem Auge erinnern. Ist es ein Herzschlag? Vielleicht des Künstlers?

Die gesamte Situation zeigt weniger einen durch die Objekte und Architektur bestimmten Ort, als sie vielmehr eine atmosphärische Aussensicht einer Innensicht bietet. Wieder sehr präzise kalkuliert nutzt Rappenecker den geschaffenen Ort wie eine Art Vehikel, um die Aufmerksamkeit in eine bestimmt Richtung zu lenken. Und diese führt die Fantasie in eine tiefgründige Unentschiedenheit, in ein virtuelles Spiel zwischen Surrogaten und ihren "echten" Vorbildern. Dass Rappenecker die gesamte Szene dabei stark psychologisch auflädt, spiegelt ein Interesse wider, das sich bereits seit seiner Installation "Twilight zone" zeigte, die er Anfang 2000 in der Galerie Martina Detterer in Frankfurt realisierte: In einer mit Basaltsplit angedeuteten Landschaft stehen vereinzelt stelenartige Sprudellampen und aus wie Geisieren anmutenden Vertiefungen tauchen leichte Nebelschwaden auf. Aus dieser Richtung kommen auch wie beiläufig und sporadisch verschiedene Dialogfetzen aus Abschiedsszenen, die Rappenecker aus bekannten Spielfilmen, wie zum Beispiel "L'éclisse" von Michelangelo Antonioni, entnommen hat.

Vergleicht man "Twilight zone" mit der Folgearbeit "Somewhere not here", wird deutlich, dass sich Rappenecker in beiden Installationen zunehmend mit filmästhetischen Mitteln und Themen beschäftigt. Das zeigt sich nicht nur in der Verwendung der dialogischen Satzfragmente, sondern auch in der Art und Weise seines installativen Umgangs mit den verschiedenen Materialien: "Somewhere not here" erscheint auf den ersten Blick wie ein verlassenes Filmset, nur allein die Akteure sind verschwunden. Doch tatsächlich sind sie anwesend, denn es sind hier die Gegenstände und ihre Beziehungen zueinander, die nicht etwa nur die Bühne für ein mögliches und agierendes Subjekt schaffen, sondern es bereits darstellen.
Wie schon in früheren Arbeiten provoziert Rappenecker auch in "Somewhere not here" die Momente von Verlassenheit und Einsamkeit als ein Gesamtbild für einen grundsätzlichen Zustand eines Subjekts: Die Bedingungen konstituieren ein Subjekt.
Alles erscheint unecht, alles theatralisch, und doch provozieren die verschiedenen Konstellationen Gefühle und Assoziationen, die wiederum sehr echt erscheinen.
Und doch: Die gesamte Situation provoziert Vermutungen nach tiefgründigen und metaphorisch aufgeladenen Inhalten, doch gleichzeitig wird eine irritierende und konzeptuelle Distanz spürbar: Die starken Gefühle geraten auf einen Prüfstand ihrer Nachhaltigkeit und Relevanz.

Das Spannungsfeld zwischen dem, das man tatsächlich sieht, und dem, das man vermutet und empfindet, bestimmt im Wesentlichen immer wieder die Qualität der Arbeiten von Gert Rappenecker. Er lässt die Grenzen zwischen Echtem und Unechtem verschwimmen: Das Pochen in "Somewhere not here" klingt wie ein echter Herzschlag. Und das war er auch einmal, nämlich bevor er - wie viele andere Töne des alltäglichen Lebens - für eine handelsübliche Geräusche-CD synthetisiert und digitalisiert wurde.

Es entspricht dem Zeitgeist, den Anspruch von Authentizität und die Behauptung, es gäbe sie, ins Kreuzfeuer zu nehmen: Im ständigen Wechsel zwischen unterschiedlichen Realitätsformen übt man sich in der Schaffung immer neuer Surrogate. Doch die Arbeiten von Gert Rappenecker erscheinen tiefgründig und mehrdeutig, und das vielleicht auch deshalb, weil sie eine Entscheidung zwischen verschiedenen Zuständen nicht als Lösung anbieten.
"Somewhere not here" erzählt eine aktuelle und somit heterogene Geschichte über die Suche nach physischer Realität als mögliches Zeichen für die letzte Bastion realer Umgangsformen.