Gert Rappenecker interessiert sich für Illusionen. Seit vielen Jahren drückt er
dieses Interesse programmatisch in unterschiedlichen Medien aus und ein
wesentliches Credo seiner Haltung zeigt sich darin, die Beziehungen zwischen
Künstlichkeit und Wahrhaftigkeit, zwischen Schein und Sein auf einen Prüfstand
ihrer Möglichkeiten zu stellen. Er bedient sich einer Strategie eines Angriffs
auf die Utopie von Authentizität, in dem er die Anmutungsqualitäten seiner
Arbeiten in ein widersprüchliches Verhältnis zu ihren tatsächlichen
Zusammenhängen und Bedingungen verstrickt.
Gert Rappeneckers Arbeiten provozieren Unsicherheitsfaktoren. Bei intensiverer
Beschäftigung mit den eingesetzten Mitteln zeigt sich ein dauerndes und somit
nicht lösbares Wechselspiel zwischen Täuschung und Entlarvung, zwischen Schein
und Sein. In diesem Wechselspiel bedient sich der Künstler keiner Hierarchie
zwischen den verschiedenen Realitätsformen, sondern setzt sie jeweils zueinander
als Korrektive ein und schafft somit ganz bewusst ein Terrain optionaler
Verunklärungen.
In der Werkgruppe der "Landschaftsbilder", die seit 1993 entsteht, wird auf den
ersten Blick die Authentizität eines harmonischen Naturbildes suggeriert: Zu
sehen sind in einer schwarz-weiss Technik gemalte Ansichten verschiedener
Landschaften; Assoziationen an die Landschaftsmalerei des 18. Jahrhunderts sind
durchaus erwünscht. Doch Rappenecker malt diese Landschaften nicht aus der
Erinnerung und auch nicht an der Staffelei vor Ort, sondern verwendet als
Vorlagen gewöhnliche Abbildungen aus Reisebüchern und Reiseprospekten und
erstellt davon vergrösserte s/w-Kopien. Diese werden auf Leinwand aufgezogen und
dann wie in einem Do-it-yourself-Verfahren in Öl ausgemalt.
Rappenecker bedient sich in seinen Arbeiten häufig verschiedener
Täuschungsmanöver, doch meint seine Täuschung keine Simulation im herkömmlichen
Sinn, denn sie möchte nicht die Realität imitieren. Gert Rappenecker geht es
viel mehr darum, aus einer sowohl kritischen Distanz heraus wie auch mittels
einer subjektiv-sentimentalen Geste einen Erlebnisraum zu schaffen, der im
Zustand der Entzauberung neue Idealbilder schaffen kann. Was wie ein
Widerspruch erscheint, soll auch einer sein. Rappenecker möchte ganz bewusst
Konflikte provozieren, zwischen einer romantischen Sicht auf sehnsuchtsvolle
Wunschbilder und der ironisch-kritischen Bestandsaufnahme gesellschaftlich
sanktionierter künstlerischer Mittel und Techniken wie Keilrahmen oder
Ölmalerei.
Das Thema Konflikt erscheint somit in seinen Arbeiten als eine grundsätzliche
und mediatisierte Kategorie, die das Verhältnis zwischen Form und Inhalt
bestimmt. Und diese ist immer von einem latent geschürten Zweifel an den
Möglichkeiten ästhetischer und inhaltlicher Massnahmen geprägt.
Auch in der Serie der "Pulps" wird dies deutlich. In längliche Blöcke aus
feuchtem Ton presst Rappenecker mit Buchstabenstempel kurze Sätze, die er aus
amerikanischen Lifestyle Magazinen und Horoskop-Heften direkt oder leicht
verändert entnommen hat. Die bearbeiteten Tonblöcke werden in Aluminum
gegossen, doch bleiben die Verstreichspuren der Tonmasse weiterhin sichtbar:
Die Fingerabdrücke und der Gebrauch von Stempeln können als authentische Spur
der schaffenden Künstlerhand interpretiert werden und liefern, nicht ohne
spielerisch-ironischen Unterton, das Gütesiegel "hand-made".
Sätze wie "From now on things will be different" oder "This is a time of
endings and beginnings, but the final outcome will be very positive" lösen
durchaus viele Assoziationen aus, doch liest man solche Horoskope im Kontext
von Hochglanzmagazinen und ihren Lifestyle-Ratgebern, dienen sie nur dem
Amusement, kurzweilig und oberflächlich. Spielerisch und ohne ernste Folgen
liefern sie esoterisch aufgeladene Fragen danach, wie wir unser Leben
beeinflussen können, oder ob wir nicht doch Sklavinnen und Sklaven höherer
Mächte sind. Rappenecker wertet diese Aussagen auf und stellt sie gleichzeitig
in einen ironisch-kritischen Zusammenhang: Er konfrontiert die prophetischen
Aussagen mit einem dezidierten Umgang mit Form, Inhalt, Material und Technik.
Strategisch kalkuliert scheint er ihnen ihren tiefen Sinn zurückzugeben, einen
Sinn, den sie in diesem Zusammenhang nie wirklich hatten; und trotzdem hallt aus
dem Hintergrund die grosse und nicht zu beantwortende Frage nach dem Sinn des
Lebens. Wird der Künstler sie beantworten können?
Gert Rappenecker legt in der Werkgruppe der "Pulps" eine feine Spur ganz
verschiedener gesellschaftsanerkannter Verdachtsmomente in Richtung eines echten
Kunstwerkes mit tiefsinniger Aussage. Er bedient sich sozusagen verschiedener
"Kunst-Effekte" und konstruiert und konstituiert nicht nur ein "echtes
Kunstwerk", sondern auch - immer mit einer konzeptionellen und zugleich
ironischen Haltung - den dazugehörigen "echten Künstler".
Seit geraumer Zeit wendet sich Gert Rappenecker in seinen Arbeiten
atmosphärisch und materialästhetisch noch stärker theatralischen Mitteln und
Effekten zu. Vor allem in seinen raumgreifenden Installationen inszeniert er
begehbare Parcours, die häufig eine geradezu animistisch
aufgeladene Qualität zeigen. Steht konzeptionell zum Beispiel in den
"Landschaftsbildern" noch eher ein handlungsorientierter Reflektionsprozess im
Zentrum, setzt sich Rappenecker in seinen neusten Arbeiten nun stärker mit
psychisch orientierten Zuständen auseinander: Unter Verwendung standartisierter
und industriell gefertigter Materialien und Produkte des Alltags inszeniert er
menschenleere Orte, geprägt von einer einsamen und melancholischen
Grundstimmung.
In der 1997 entstandenen Arbeit "Krater" verankert Gert Rappenecker
Autofrontscheiben am Boden in der Art und Weise, dass sie einen Kreis von ca.
neun Meter Durchmesser bilden. Aufgefüllt wird die Fläche mit kleinen
Styroporelementen, die normalerweise als Füll- und Stützmaterial für
Verpackungen von Elektrogeräten verwendet werden; aus der weissen Masse ragen
Antennen von alten Transistorradios heraus, deren Sender so eingestellt sind,
dass sie ein permanentes und diffuses Rauschen produzieren. Von weitem
betrachtet ergibt sich ein schönes und beinahe elegisch anmutendes Bild. Doch
Rappenecker überdehnt die Attraktivität des "schönen Bildes" durch
die Kühle und Distanz der Materialien und in einem Spannungsfeld zwischen Kunst-
und Naturbild, Realität und Illusion offenbart sich ein modellhafter
Erlebnisraum.
Mit der Installation "Krater" ist Gert Rappenecker nicht nur eine überaus
eigensinnige und vieldeutige Arbeit gelungen, sondern sie markiert zudem in
Verbindung mit der Arbeit "Long Way" eine neue inhaltliche Ausrichtung: Beide
Arbeiten beanspruchen den ganzen Raum, vermitteln trotz ihrer überschaubaren
Materialästhetik die geheimnisvolle Atmosphäre einer Warte- und Verweilsituation
und scheinen eher ein Gefühl, einen seelischen Zustand zu transportieren, als
dass sie einen Prozess sichtbar machen wollen.
Die Wahl des Titels "Krater", die diffusen Geräusche im Hintergrund und das
leichte Herausquillen der Styropor-Elemente an den Seiten der Autoscheiben
provoziert die Assoziation an einen bevorstehenden Vulkanausbruch. Gleichzeitig
sind die Agenten dieser Geschichte so minimalistisch eingesetzt, dass eine
mögliche Entladung in einem stabilen Schwebezustand wie eingefroren erscheint.
Dieser Zustand eines fast bedrohlichen Innehaltens bestimmt im wesentlichen
auch Gert Rappeneckers aktuellste Arbeit "Somewhere not here". Auch hier
erscheinen die Mittel am Anfang geradezu plakativ: In den beiden
Ausstellungsräumen der Kellergewölbe der Stadtgalerie Bern stapeln sich in
unterschiedlichen Höhen fabrikneue Autoreifen für PKWs. Das Licht kommt von
gewöhnlichen Baustrahlern, die auf dem Boden stehen und dramatische
Schlagschatten werfen. Nur im hinteren Raum liegt ausser den PKW-Reifen zudem
ein einziger und wuchtiger LKW-Reifen, in dessen Mitte sich eine
Luminglasscheibe befindet, die auf Schallwellen reagiert. Split, kleine,
scharfkantig gebrochene Steine, sind unregelmässig auf dem Boden verteilt, die
Reifenstapel versinken leicht darin. Zudem befindet sich in der hinteren linken
Ecke im ersten Raum noch ein Stapel Kühlakkus, mit denen man gewöhnlich
Kühltaschen bestückt. Beherrscht wird die ganze Szene von einem laut und
regelmässig pochenden Ton, und dieser lässt bei jedem Schlag auf der
Luminglasscheibe Linien erscheinen, die an Gewitterblitze oder auch an die feine
Äderchenstruktur in einem Auge erinnern. Ist es ein Herzschlag? Vielleicht des
Künstlers?
Die gesamte Situation zeigt weniger einen durch die Objekte und Architektur
bestimmten Ort, als sie vielmehr eine atmosphärische Aussensicht einer
Innensicht bietet. Wieder sehr präzise kalkuliert nutzt Rappenecker den
geschaffenen Ort wie eine Art Vehikel, um die Aufmerksamkeit in eine bestimmt
Richtung zu lenken. Und diese führt die Fantasie in eine tiefgründige
Unentschiedenheit, in ein virtuelles Spiel zwischen Surrogaten und ihren
"echten" Vorbildern. Dass Rappenecker die gesamte Szene dabei stark
psychologisch auflädt, spiegelt ein Interesse wider, das sich bereits seit seiner
Installation "Twilight zone" zeigte, die er Anfang 2000 in der Galerie Martina
Detterer in Frankfurt realisierte: In einer mit Basaltsplit angedeuteten
Landschaft stehen vereinzelt stelenartige Sprudellampen und aus wie Geisieren
anmutenden Vertiefungen tauchen leichte Nebelschwaden auf. Aus dieser Richtung
kommen auch wie beiläufig und sporadisch verschiedene Dialogfetzen aus
Abschiedsszenen, die Rappenecker aus bekannten Spielfilmen, wie zum Beispiel
"L'éclisse" von Michelangelo Antonioni, entnommen hat.
Vergleicht man "Twilight zone" mit der Folgearbeit "Somewhere not here", wird
deutlich, dass sich Rappenecker in beiden Installationen zunehmend mit
filmästhetischen Mitteln und Themen beschäftigt. Das zeigt sich nicht nur in der
Verwendung der dialogischen Satzfragmente, sondern auch in der Art und Weise
seines installativen Umgangs mit den verschiedenen Materialien: "Somewhere not
here" erscheint auf den ersten Blick wie ein verlassenes Filmset, nur allein die
Akteure sind verschwunden. Doch tatsächlich sind sie anwesend, denn es sind hier
die Gegenstände und ihre Beziehungen zueinander, die nicht etwa nur die Bühne
für ein mögliches und agierendes Subjekt schaffen, sondern es bereits
darstellen.
Wie schon in früheren Arbeiten provoziert Rappenecker auch in "Somewhere not
here" die Momente von Verlassenheit und Einsamkeit als ein Gesamtbild für einen
grundsätzlichen Zustand eines Subjekts: Die Bedingungen konstituieren ein
Subjekt.
Alles erscheint unecht, alles theatralisch, und doch provozieren die
verschiedenen Konstellationen Gefühle und Assoziationen, die wiederum sehr echt
erscheinen.
Und doch: Die gesamte Situation provoziert Vermutungen nach tiefgründigen und
metaphorisch aufgeladenen Inhalten, doch gleichzeitig wird eine irritierende und konzeptuelle
Distanz spürbar: Die starken Gefühle geraten auf einen Prüfstand ihrer
Nachhaltigkeit und Relevanz.
Das Spannungsfeld zwischen dem, das man tatsächlich sieht, und dem, das man
vermutet und empfindet, bestimmt im Wesentlichen immer wieder die Qualität der
Arbeiten von Gert Rappenecker. Er lässt die Grenzen zwischen Echtem und Unechtem
verschwimmen: Das Pochen in "Somewhere not here" klingt wie ein echter
Herzschlag. Und das war er auch einmal, nämlich bevor er - wie viele andere
Töne des alltäglichen Lebens - für eine handelsübliche Geräusche-CD
synthetisiert und digitalisiert wurde.
Es entspricht dem Zeitgeist, den Anspruch von Authentizität und die Behauptung,
es gäbe sie, ins Kreuzfeuer zu nehmen: Im ständigen Wechsel zwischen
unterschiedlichen Realitätsformen übt man sich in der Schaffung immer neuer
Surrogate. Doch die Arbeiten von Gert Rappenecker erscheinen tiefgründig und
mehrdeutig, und das vielleicht auch deshalb, weil sie eine Entscheidung zwischen
verschiedenen Zuständen nicht als Lösung anbieten.
"Somewhere not here" erzählt eine aktuelle und somit heterogene Geschichte über
die Suche nach physischer Realität als mögliches Zeichen für die letzte Bastion
realer Umgangsformen.
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